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Die NS-Kolonialpolizeischule Oranienburg – Kontinuität vom Kolonialismus zum Nationalsozialismus? Ein Interview mit Sascha Steger
In aktuellen erinnerungskulturellen Debatten wird immer wieder über Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen Kolonialismus und dem Nationalsozialismus verhandelt. Diese Diskurse beziehen sich meist auf ideologische Kontinuitätslinien, seltener lassen sich aber auch materielle Kontinuitäten finden. Nicht selten sind diese Debatten durch identitäts- und erinnerungspolitische Anliegen geprägt. Wird der Fokus auf die Wechselbeziehungen von Zivilisation und Barbarei gelegt, kann der Blick für die Präzedenzlosigkeit des Holocaust geschärft und zugleich auch Verbindungen zu kolonialen Verbrechen sichtbar gemacht werden.
Eine in der Forschung und Erinnerungsarbeit bisher wenig beachtete Institution, die diese Verbindungslinien sichtbar macht, ist die von der Ordnungspolizei gegründete Schule der Kolonialpolizei, die während des Zweiten Weltkriegs im Oranienburger Schloss untergebracht war.
Was für eine Organisation war nun aber die Kolonialpolizeischule? Lassen sich die auf Grund des Namens offensichtlich erscheinenden Kontinuitäten auch belegen? Und welches Potential hat die Beschäftigung mit der Kolonialpolizei demnach für die Gedenk- und Erinnerungsarbeit? Darüber hat das Netzwerk Zeitgeschichte mit dem Historiker Sascha Steger gesprochen. Er ist wissenschaftlicher Volontär bei der Stiftung Topographie des Terrors und promovierte mit einer biographischen und organisationsgeschichtlichen Studie zu Kurt Daluege, dem Chef der Ordnungspolizei im NS-Staat. In diesem Zusammenhang hat er sich mit den Plänen zum Aufbau einer Kolonialpolizei befasst.
Warum wurde im Oranienburger Schloss eine Kolonialpolizeischule eingerichtet?
Das NS-Regime war seit der Machtübernahme bestrebt, die Kolonien in Afrika und Asien zurückzuerlangen, die infolge des Versailler Vertrags abgetreten werden mussten – das Thema war aber nicht zentral, sondern vor allem eine Prestigefrage. Die uniformierte Polizei, ab Juni 1936 als Ordnungspolizei bezeichnet, sah sich gewissermaßen in der Tradition der Kolonialpolizeieinheiten des Kaiserreichs. In Bremen, Kiel, Hamburg und Berlin etwa übernahm die Polizei symbolisch die Tradition der Kolonialtruppen. Das bedeutete konkret, dass sie mit einer entsprechenden Traditionspflege betraut wurden und spezielle Ärmelabzeichen tragen durften.
Der Chef der Ordnungspolizei, Kurt Daluege, ordnete außerdem im Jahr 1938 ausgewählte Polizeibeamte zu „Kolonial-Sonderkursen“ ab. Hierfür ließ er gezielt nach Dozenten suchen, die früher selbst als Polizisten in den Kolonien eingesetzt waren. Im März 1939 ging ein Aufruf von ihm an die gesamte Ordnungspolizei, dass sich Freiwillige für den Dienst in den zukünftigen Kolonien bewerben könnten. Das stieß auf großes Interesse: es meldeten sich 2.400 Beamte – bis 1941 gab es sogar 4.300 Bewerbungen.
Nach dem Sieg über Frankreich und mit dem Beginn des Afrikafeldzuges rückte die Errichtung eines Kolonialreiches für die NS-Führung scheinbar in greifbare Nähe. Daher richtete Daluege im Hauptamt Ordnungspolizei, der zentralen Verwaltung der deutschen uniformierten Polizei, eine Abteilung mit der Bezeichnung Kolonialpolizeiamt ein. Das Amt sollte den Aufbau einer Kolonialpolizei vorbereiten: durch den Aufbau von Schulen, die Erarbeitung von Lehrplänen und die allgemeine Vorbereitung des Einsatzes. Als Standort der Kolonialpolizeischule entschied sich die Polizeiführung für das Oranienburger Schloss. Es war bereits seit 1935 Unterkunft für SS-Wachtruppen und im Zuge der Aufstellung paramilitärischer Polizeiverbände ab 1938 ausgebaut und mit Schulungsräumen versehen worden. Dies und die Nähe zu Berlin waren für die Wahl entscheidend.
Wer lernte dort – und welche Inhalte wurden vermittelt?
Die Schule eröffnete Daluege persönlich im April 1941 und schwor die Polizeischüler auf ihren künftigen Kolonialeinsatz ein – begleitet von der Ankündigung, dass „Deutschland bald das Erbe der britischen Kolonialverwaltung“ antreten werde.
Die Schule war für 600 Personen konzipiert, eine baldige Verdopplung der Kapazitäten war vorgesehen. Die Auswahl der Schüler war vergleichsweise streng. Schließlich sollten sie später Führungsrollen übernehmen und einheimische Hilfstruppen befehligen.
Ein erster Lehrgang begann am 17. April 1941, ein zweiter am 1. September desselben Jahres. Die Ausbildung dauerte vier Monate und war damit recht kurz – insbesondere, wenn man die große Zahl an Unterrichtsfächern betrachtet: Neben einer für Polizisten typischen praktischen Ausbildung mit Schießtraining und Sport wurde ein theoretischer Unterricht zu Themen wie Kolonialpolitik, „Eingeborenenpolitik“, Landeskunde, Botanik und intensiver Sprachunterricht erteilt. Der Inhalt knüpfte an die kolonialen Erfahrungen aus dem Kaiserreich an. Alles in allem dürften die Schulungen angesichts der kurzen Dauer der Lehrgänge recht oberflächlich geblieben sein.
Wenn es eine Kolonialpolizeischule gab, gab es dann auch eine Kolonialpolizei?
Tatsächlich nicht. Der Kriegsverlauf ließ die Gewinnung von Kolonien schon bald in weite Ferne rücken. Im Frühjahr 1942 befahl Heinrich Himmler die Einstellung aller kolonialpolitischen Anstrengungen in SS und Polizei. Alle noch laufenden Schulungen wurden abgebrochen. Die Schüler wurden zu Polizeibataillonen zusammengestellt und in den besetzten Ostgebieten eingesetzt. Ich schätze, dass bis zu diesem Zeitpunkt an der Kolonialpolizeischule in Oranienburg bereits rund 1.200 Polizisten ausgebildet worden sein könnten.
Welche Kontinuitäten zwischen dem Kolonialismus des Kaiserreichs und der Kolonialpolitik des NS-Staats zeigt das Beispiel der Kolonialpolizeischule Oranienburg?
Zunächst lässt sich sagen, dass das Ausbildungsziel der Einsatz in den früheren deutschen Kolonien – vor allem in Afrika – war. Das geht so weit, dass die Schüler nach ihrem späteren Einsatzort – etwa in Kamerun oder in „Deutsch-Südwestafrika“ (heutiges Namibia) – in unterschiedliche Klassen eingeteilt wurden und darauf abgestimmte Inhalte, etwa die dort vorherrschenden Sprachen, studierten. Einige Dozenten verfügten selbst über koloniale Erfahrungen, weil sie zuvor in den ehemaligen deutschen Kolonien eingesetzt gewesen waren. Die koloniale Traditionspflege in der Polizei knüpfte an die Mythen und Erzählungen der Kolonialpolizei- und Schutztruppen an.
Welches Potential hat die Beschäftigung mit der Kolonialpolizeischule Oranienburg für die Erinnerung und das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus?
An der Kolonialpolizeischule in Oranienburg wurden die Lehrgangsteilnehmer darauf vorbereitet, die zu erobernden Länder rücksichtslos auszubeuten und die einheimische Bevölkerung zu unterdrücken. Widerstände gegen die deutsche Herrschaft sollten mit unerbittlicher Härte unterdrückt werden. Vor und nach der Nutzung des Oranienburger Schlosses als Kolonialpolizeischule wurden dort zudem Polizisten für den Einsatz in den besetzten Gebieten ausgebildet, die später an Massenverbrechen beteiligt waren. Hierzu fehlen bislang detaillierte Erkenntnisse, was die weitere Forschung besonders relevant macht. Auch der Frage nach Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen Kolonialismus und dem Nationalsozialismus könnte man sich durch die Beschäftigung mit den Versuchen des NS-Regimes zur Aufstellung einer Kolonialpolizei annähern.
Sascha Stegers biographische und organisationsgeschichtliche Studie zu Kurt Daluege und der Ordnungspolizei im NS-Staat erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2026.
